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Titel
Aneignung und Erstarrung. Die Konstruktion Brasiliens und seiner Bewohner in portugisischen Augenzeugenberichten 1500-1595


Autor(en)
Pinheiro, Teresa
Reihe
Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte 89
Erschienen
Stuttgart 2004: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
355 S.
Preis
EUR 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Harbeck, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Deutschsprachige Studien zu Brasilien im 16. Jahrhundert sind selten. Unter den wenigen Beiträgen finden sich jedoch einige, die sich mit Reiseberichten über dieses Land befassen. Der Schwerpunkt liegt hierbei allerdings häufig entweder auf deutschen und französischen Autoren oder auf dem Themenkomplex des Kannibalismus.1 Mit dem vorliegenden Band liegt nun ein vielseitig verwendbarer und dazu noch interdisziplinärer Beitrag zur Brasilianistik vor, der sich explizit auf die portugiesischen Texte des 16. Jahrhunderts konzentriert und nicht nur die Anthropophagie thematisiert. Das Werk stellt eine überarbeitete Fassung von Teresa Pinheiros Dissertation dar und ist im Rahmen des Paderborner Graduiertenkollegs zu Reiseliteratur und Kulturanthropologie entstanden. Pinheiro befasst sich mit der sprachlichen und kulturanthropologischen Aufschlüsselung portugiesischer Berichte über Brasilien und insbesondere die dortige autochthone Bevölkerung. Hinzu kommt die historische Komponente durch den Betrachtungszeitraum. Der Untersuchung zugrunde liegen die zeitgenössischen Hauptschriften von in der Brasilien-Forschung so bekannten Autoren wie Pêro Vaz de Caminha, des Piloto Anónimo, Pêro Lopes de Sousa, Pêro de Magalhães de Gândavo, Gabriel Soares de Sousa und der vier Jesuiten Manuel de Nóbrega, José de Anchieta, Fernão Cardim und Francisco Soares. Der Band gliedert sich nach Vorwort und Einleitung in drei Hauptteile. Hinzu kommen die Schlussbemerkung und ein umfangreicher Anhang. Der wird ergänzt und abgerundet durch eine Bibliografie, einen Abbildungsnachweis und ein Register. Der Anhang enthält Faksimile-Auszüge aus dem Quellen-Korpus, einen Überblick über die Editionsgeschichte dieser Textauswahl, eine Übersicht über die Gliederung und Themenkomplexe der Einzelquellen sowie einen tabellarischen Vergleich der ethnografischen Exkurse in den Augenzeugenberichten. Zu guter Letzt finden sich hier auch noch die Übersetzungen der fremdsprachigen Zitate.

Im ersten Kapitel der Untersuchung diskutiert sie unter Einbeziehung ethnologischer, literaturwissenschaftlicher und historischer Forschungsmeinungen die Frage nach der Aussagekraft von Reise- und Augenzeugenberichten. So bezieht sie sich unter anderem auf Clifford Geertz’ Idee vom Ethnographen als gleichermaßen Autoren und Interpreten von Kultur (S. 13ff.). Hier liefert sie auch die Editionsgeschichte der Einzelschriften des Textkorpus. Dieser Korpus habe in dem gewählten Zeitraum dazu geführt, dass die „Formation und Etablierung eines Brasilien- und Indianerdiskurses“ zu konstatieren sei. Zentrale Fragen, die sie in diesem Teil für die Analyse entwickelt, sind: „Wie werden die Bewohner Brasiliens in ihrer Andersartigkeit aus dieser Perspektive heraus erklärt? Wie konstituiert sich Brasilien mit seiner fremdartigen Natur im Laufe der ersten hundert Jahre der Kolonisierung als ein diskursives Objekt?“ (S. 11).

Der zweite Teil analysiert in chronologischer Abfolge den Textkorpus und kristallisiert in anschaulicher Weise in sämtlichen Schriften einen Aneignungsdiskurs heraus: Die Darstellungen von Land und indigener Bevölkerung in den Beschreibungen über den Verlauf ihrer jeweiligen Tätigkeit dienen jeder Autorengruppe, seien es Kolonisten, Kronbeamte oder Missionaren immer als Rechtfertigung ihrer Ziele und spiegeln den Stand der kolonialen Aneignung wider. So vertreten die Jesuiten kein durchgängiges Bild eines „Edlen Wilden“, sondern sehen „den Indianer“ letztlich als zu missionierendes Objekt, das je nach Aneignungsstrategie beschrieben wird (S. 263f.). Ziel ist es, Brasilien als ein „neues Portugal“ zu konstruieren (S. 161, 240, 266).

Kontrastierend rückt Pinheiro im dritten Teil ethnografische Beschreibungen der indigenen Bevölkerung in den Blickpunkt. Vor allem ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sind viele der Berichte als Traktate oder zweigeteilt verfasst und enthalten neben Schilderungen des kolonialen Projekts „wissenschaftlich“ anmutende Abhandlungen über Land und Leute. Hierin nehmen die Autoren teils gegensätzliche, teils auch nur neutraler gefasste Positionen ein als in derselben Schrift an anderer Stelle oder als in anderen Berichten. Mit diesen Beiträgen hätten die Autoren keine Aneignungsstrategie im Auge gehabt oder koloniale Dienstleistung erbracht, sondern sich vielmehr an der europäischen Wissensproduktion orientiert und auf ganz andere Adressaten/innen gezielt, argumentiert Pinheiro (S. 265). Gestützt wird diese These nicht nur durch ihre Sprachanalyse und den Vergleich mit anderen europäischen Brasiliana, sondern auch durch die Editionsgeschichte: Viele dieser Berichte wurden erst im 19. Jahrhundert publiziert oder erstmalig in italienischen und englischen Sammlungen veröffentlicht. Zudem zeugten die Beschreibungen der autochthonen Bevölkerung häufig von einer starken Tendenz zur monolithischen Darstellung „der Indianer“. Eine Vereinheitlichung unter fast archäologisch-museal anmutenden Vorzeichen, da die Autoren implizit oder explizit einen Zustand vor der Aneignung, d.h. Assimilation oder Ausrottung, beschrieben. Somit „erstarre“ das Indianerbild durch diese Beschreibungen. Auch heutige Ethnologen/innen würden noch darauf rekurrieren (S. 258f.). Damit stehen die beiden Diskurse für Pinheiro nicht im Widerspruch zueinander. Sie dienen beide auf ihre Weise der Konstruktion Brasiliens, die Berichterstatter sind – und hier wird ihre Thematisierung Geertz’ wiederaufgenommen – Autoren und Interpreten von Kultur, sie erfinden diese neu (S. 254ff.).

Aus Sicht des rezensierenden Historikers liegen die Stärken dieser Untersuchung vor allem auf vier Feldern, denen Sprachwissenschaftler/innen und Ethnologen/innen möglicherweise noch weitere hinzufügen würden: 1. Sie liefert in kurzer und knapper Form einen guten Überblick über die Editionsgeschichte dieser für die brasilianische Geschichte und Ethnografie wichtigen Quellen. 2. Sie bietet durch die ausführliche sprachliche und ethnologische Analyse sowohl eine wichtige Arbeitshilfe bei der Quellenkritik als auch ein Vorbild für ähnliche Untersuchungen. 3. Die Quellenkritik für die herangezogenen Berichte wird sich in Zukunft um einiges erleichtern, gerade auch für nichtportugiesischsprachige Studierende und Wissenschaftler. 4. Die gut argumentierte Beweisführung für „Aneignung“ und „Erstarrung“ bietet eine wichtige Bereicherung der Forschung sowohl zum frühen kolonialen Brasilien als auch zum portugiesischen Kolonialdiskurs.

Einige marginale Kritikpunkte sind jedoch anzumerken: Die Abbildungen sind sicher eine wichtige Bereicherung, doch fehlen direkte Textbezüge zwischen Untersuchung und den ausgewählten Faksimile-Seiten. Die dienen anscheinend nur der Veranschaulichung solcher Quellen für den Literaturwissenschaftler oder Ethnologen. Unklar ist auch, warum sie als Titelbild ein holländisches Bild aus dem 17. Jahrhundert gewählt hat, zumal sie in ihrer Untersuchung bedauerlicherweise überhaupt nicht auf Illustrationen eingeht. Gab es keine? Das wäre gerade im Hinblick auf die reich bebilderten Publikationen im französischen und deutschen Raum interessant zu wissen. Hingegen ist der sich gegen Ende über zwei Seiten hinziehende Exkurs und Vergleich mit Claude Lévi-Strauss zwar sicherlich ein interessanter Exkurs, passt aber nicht in ihre ansonsten so stringente Argumentationsführung. Intertextuelle Bezüge zwischen den Texten kommen zu kurz, waren anscheinend entweder nicht zu klären oder blieben aus anderen Gründen aus der Analyse ausgeklammert. Gerade auf diesem Gebiet hätte man sich vom diskurstheoretischen Ansatz einiges erwartet. Für eine interdisziplinäre Arbeit sind Sprache und Form der Arbeit etwas zu sprachwissenschaftlich gehalten, aber das sind schließlich alles keine wirklichen gravierenden Mängel und beeinträchtigen nicht den insgesamt überaus überzeugenden Gesamteindruck dieser wichtigen Studie.

Anmerkung:
1 Stellvertretend seien hier die auch bei Pinheiro des häufigeren zitierten Bücher genannt: Wendt, Astrid, Kannibalismus in Brasilien. Eine Analyse europäischer Reiseberichte und Amerika-Darstellungen für die Zeit zwischen 1500 und 1654 (= Europäische Hochschulschriften 19 B-Ethnologie 15), Frankfurt am Main 1989; Menninger, Annerose, Die Macht der Augenzeugen. Neue Welt und Kannibalen-Mythos 1492-1600(= Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte 64), Stuttgart 1995. Aber auch auf den bei ihr nicht erwähnten Band sei verwiesen: Obermeier, Franz, Brasilien in Illustrationen des 16. Jahrhunderts (= Americana Eystettensia, Ser. B, Monografien, Studien, Essays 11), Frankfurt am Main 2000.

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